Auf den Geschmack kommen
Ein gutes Buch liest man am besten zweimal.
Heimat der Winde
Trekking in Nepal - Reisetagebuch der Autorin
Im Schatten ist es eiskalt, ich weiß nicht, wie lange mir der Wind guttut, auch wenn ich mit Basecap und Kapuze geschützt bin. Es ist mal ein säuselnder Wind, mal ein pfeifender. Hier gibt es viele Winde, und manchmal kommen sie gemeinsam daher. Und nun fegten sie ein Pärchen zu uns ...
Die zwei jungen Holländer grüßten mich ordentlich mit „Namasté“. Ich warf ihnen ein „Hallo“ zu und fragte auf Englisch, woher sie kämen. Da erfuhr ich ihr Heimatland, aber ich meinte doch von welcher Trekkingetappe! Es gibt sogar sprachliche Missverständnisse mit Europäern! Ich muss mein Englisch verbessern!
Sie redeten dann ganz gut deutsch von unserem Ziel Muktinath, wie beeindruckend die Tempelanlage mit 108 Quellen in dieser Höhe sei. Eine Dusche darunter soll von Sünden befreien! Das muss ich machen, vielleicht bin ich dann noch zu retten! Es ist einer der wichtigsten Pilgerorte für Hindus und Buddhisten gleichermaßen.
Der Ausblick von 3.800 Meter soll fantastisch sein über die felsigen Berghänge bis zu den Achttausendern hoch. Weitaus besser als hier, wo ich schon hin und weg bin! Diese Strecke hätten sie in sieben Stunden bewältigt, wir sollten in einem der Dörfer auf dem Weg eine Übernachtungsmöglichkeit aufsuchen. Hoffe, dass das mit Merlin möglich ist!
Hier im Distrikt Mustang fühle ich mich der Geschichte nah, denn wenige Kilometer entfernt liegt Tibet mit dem von China vereinnahmten heiligen Lhasa. Das einst der Sitz des Dalai Lama war, der seit der Besetzung 1959 im indischen Exil lebt.
Tibet hatte über die Jahrhunderte viel ertragen müssen unter steten chinesischen Annexionsvorstößen. Die Briten als Kolonisten hatten das zu verhindern gesucht, aber kriegerische Kämpfe versetzten die friedlichen Tibeter in Angst und Schrecken, schlugen viele in die Flucht nach Nepal. Immer noch sind es wohl mehrere tausend jährlich. Auch auf dieser Strecke. Unweit dieser Siedlung gibt es einen Kontrollposten.Die hier lebenden Tibeter betreiben Landwirtschaft, vermieten Zimmer für Wanderer, bewirten sie und verkaufen selbstgemachten traditionellen Schmuck, Buddhafiguren und Kleidung aus Yakwolle. Vielleicht lege ich mir etwas zu, als Andenken.
Das Pärchen hat etwas gegessen und ging schlafen, wie schon andere Wanderer. Während mir offenbar zu viele Sauerstoffbubbles im Hirn sprudeln, denn ich fühle mich belebt! Es saust stärkerer Wind heran, ich seh, wie er eine Sandhose zu uns wirbelt ...
Ich brachte mich in Sicherheit und sitze nun in der Veranda geschützt. Auf dem Flachdach flattern die Gebetsfahnen, der Wind zerrt an ihnen, ganz ausgefranst sind sie. Darauf stehen Gebetstexte, die der Wind in die Welt hinausbläst. Es geht immer um das Wohl aller Wesen. Wenn der Wind gerade schweigt, herrscht hier vollkommene Stille. Allein im Himalaja.
Unterwegs hatten wir Rast gemacht am Haus einer tibetischen Familie. Uns wurde der legendäre Buttertee gereicht. Ich wusste schon aus „7 Jahre in Tibet“, dass der nicht nach europäischem Gusto ist, probierte ihn aber. Es schmeckt wie fettige Brühe. Wer‘s mag. Merlin roch bloß dran. Schade, dass wir so mäklig sind, wir waren sehr unhöfliche Gäste, da wir ihn nicht austranken!
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Der rote Kardinal
Eine Liebeskomödie in der Weihnachtszeit
Als ich das Set in Potsdam verließ, ahnte ich nicht, dass ich wenig später eine seltsame Entscheidung treffen würde. Die TV-Serie war abgedreht, die Leute von der Crew wünschten sich mit Sekt schöne Weihnachten, sie standen noch beieinander und plauderten. Mein Manager und ich klönten in der Lobby des Filmstudios beim Tee. Ein Tannenbaum war bescheiden geschmückt, kein Vergleich zu Amerika! Wir hatten keine Eile, denn unser Flieger nach Los Angeles ging erst am nächsten Tag.
Und wie ich so die Leute mit ihren Partnern und Kindern sah, dann Jeff und mich betrachtete, zwei Singles, geschieden, unwillig, jemandem mehr zu geben als geschäftliche Kameradschaft, beschlich mich das pochende Gefühl der Unvollkommenheit.
„Wie sie das nur anstellen?“, bemerkte ich mit Blick auf die beieinanderstehenden Paare.
„Ich bin ein bisschen neidisch“, sagte Jeff. „Weihnachten werden meine Eltern wieder drängen, mir endlich die Richtige zu suchen ... Möchtest du noch mal heiraten?“
„Soll das ein Antrag sein?“, alberte ich.
Jeff sprang darauf an:
„Wir kennen uns schon lange.“
„Aber du kennst auch meinen Ruf! Ich bin diejenige, die mit eiskaltem Herzen Ehen zerstört.“
Er winkte ab, auf Boulevardmüll gebe er nichts. Sein Blick haftete an den Partygästen, gedankenverloren raunte er:
„Ich bin fast vierzig und sollte doch ein paar Kinder haben. Im Idealfall auch eine Frau, die es mit mir aushält ...“
„Hey, du bist ein guter Kerl“, entgegnete ich. „Die Richtige wird kommen!“
„Hast du eine jüngere Schwester?“
Ich lachte auf.
„So viel ich weiß nicht“, scherzte ich. „Meine Eltern hatten nach mir die Nase voll.“
„Mach dich nicht schlecht, Helena“, protestierte jetzt Jeff. „Das steht dir nicht. Du bist wunderbar!“
Ich dankte ihm, weil ich wusste, dass er es genau so meinte. Mit meinem Selbstwert war alles in Ordnung, ich genoss Anerkennung, Ruhm und Geld. Ich liebte meine Arbeit, ich liebte es, in die Rollen anderer Personen zu schlüpfen, ihren Charakter zu ergründen und zu verkörpern, einfach immer wieder jemand anderes zu sein. Ich liebte mein Appartement in Los Angeles, ich liebte den Strand und das milde Klima von Kalifornien, die leichten Begegnungen mit Menschen, die mich zu nichts verpflichteten. Autark, unabhängig, frei! Unvollkommen hab ich mich nie gefühlt. Warum jetzt?
Ich schlug ein Bein über das andere. Ich war in zivil, dezent geschminkt, in Jeans und Strickjacke, ich lümmelte mich richtig hinein in den Ledersessel der Lobby. Da schritt eine betagte Dame mit roten Lippen durch die Eingangstür, die Handtasche am Arm baumelnd, der behutete Kopf stolz gehoben. Aus dem grauen Wollmantel traten strichdünne Beine in schwarzen Stiefeletten hervor. Sie wirkte wie eine Filmdiva der Dietrich-Ära und erinnerte mich an meine Großmutter, die einstige Bühnendarstellerin Hildegard Sommer, die im August verstorben war.
„Jeff, ich fahr zum Grab meiner Oma“, sagte ich zu meinem nun verdutzt blickenden Manager. „Wir sehen uns zum Abendessen im Hotel.“
Ich entschwand. Ein Taxi fuhr mich zum Friedhof, es dämmerte bereits, aber ich wusste, das Grab lag ziemlich am Eingang, dort wo auch mein Vater beerdigt war. Mutter und Sohn zusammen, das war der Gedanke. Und es sollte in puncto Grabpflege praktisch für meine Mutter sein. Da hatte ich es auch schon gefunden und wie ich mir den Grabstein besehe, entdecke ich meinen Namen! Mit angehaltenem Atem betrachtete ich mir das genauer. Verblüfft stellte ich fest, dass meine Großmutter mit zweitem Vornamen Helena geheißen hatte!
Warum mich das berührte, wusste ich gar nicht. Es war bloß ein Name. Aber Helena Sommer hieß ich, mein Leben lang, trotz dreier Ehen! Ich war und blieb im Showbiz Helena Sommer. Die einzige Konstante in meinem Leben. Nun stellte sich heraus, dass Oma zwar Hildegard Helena Sommer geheißen hatte, und wir standen auch gar nicht in Konkurrenz, aber einen Seitenhieb versetzte mir das dennoch.
Lag es daran, dass ich es erst nach ihrem Tod erfuhr, hier an ihrem Grabstein? Zudem stand darunter ihr Mädchenname, geb. irgendwas. Ich konnte es in der Dämmerung nicht entziffern, egal wie sehr ich mich bemühte. Und ich erinnerte mich auch nicht an einen anderen Namen als Sommer. Wut und Traurigkeit verwässerten mir die Sicht. Oma ist die wichtigste Bezugsperson in meinem Leben gewesen, und doch wusste ich so etwas Wichtiges nicht über sie! Hätte ich sie doch nur öfter besucht! Hätte ich ihr mehr Fragen gestellt! Hätte ich mich nur mehr für sie interessiert!
Dort umgeben von schwarzen Totenhügeln, verdrückte ich tatsächlich ein paar Tränen. Würde ich hier eines Tages auch liegen, von Menschen vergessen, die ich im Stich gelassen hatte? Da fiel mir ein, dass ich mich ja einäschern und im türkisen Pazifik verstreuen lassen würde! Das könne meine Assistentin übernehmen, die zwanzig Jahre jünger war als ich. Aber so viel wie die rauchte? Na ja, irgendjemand würde sich schon meiner Asche annehmen. Meine Kinder sicher nicht.
Der Friedhofswärter ermahnte mich mit Berliner Charme:
„Jute Frau, ick schließ jetze ab. Kommse n andermal wieder!“
Ich wollte nun meine Mutter besuchen, aber als ich sie anrief, drang ein Näseln an mein Ohr, sie habe sich die Grippe eingefangen, dramatisierte sie. Ich solle fernbleiben. Schließlich wolle sie zu Weihnachten nach Gran Canaria fliegen, sich um unser Ferienhaus kümmern.
„Vielleicht komm ich auch hin“, sagte ich spontan.
„Na, wer’s glaubt!“
Sie müsse nun auflegen, ihre Nase sei verstopft. Das war mir recht so, ich wünschte ihr gute Besserung und gleich auch eine angenehme Reise.
Beim Abendessen erzählte ich Jeff von meinen Gedanken am Grab. Während ich redete, arbeitete es in seinem Gesicht.
„Das Winterwetter bekommt dir eindeutig schlecht“, moserte er. „Na, morgen gehts endlich zurück ins warme Kalifornien!“
Erst nickte ich, aber in mir erwachten Kindheitserinnerungen vom Rodeln und Schlittschuhlaufen. Auch wie wir mit Paul und Paulina Schneemänner gebaut hatten ... Gerade waren die Zwillinge 33 geworden, 27 Jahre hatte ich sie nicht gesehen ...
Jeff ging mit mir die vor und nach Weihnachten anstehenden TV-Termine durch, als ich donnerte:
„Sag die ab! Ich bleib noch hier! Ich fahre nach Mecklenburg, ins Haus meiner Oma.“
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Margareta
Anders und wertvoll!
Großvaters Wunsch an mich klang zunächst einfach.
„Franziska“, sagte er, „ich hab nicht mehr lange. Geh zu meiner Schwägerin und bring ihr etwas von mir.“
Seit Großmutters Tod lebte er im Pflegeheim. Krank war er nicht, nur vergesslich und pflegebedürftig mit seinen 84 Jahren. Die Luft im Zimmer fand ich wie immer stickig, ich kippte ein Fenster an. Wir hatten ihm einige seiner Möbel aufgestellt, wie eine Stehlampe aus den Fünfzigern, den runden Holztisch und zwei Sessel, die abgewetzt und noch mit Sprungfedern ausgestattet waren. Mutter hatte geschimpft:
„So olles Zeug! Man muss sich ja schämen!“
Er aber legte großen Wert auf diese Erinnerungsstücke. Dass er für seinen mageren Po ein dickes Sitzkissen benötigte, störte ihn nicht. Er schlurfte zur Kommode, kramte mit zittrigen Händen in der obersten Schublade und reichte mir einen Schlüssel mit doll gezacktem Bart. Den sollte ich seiner Schwägerin geben.
„Aber mit denen wollen wir doch nichts zu tun haben“, sagte ich.
Sein Gesicht zog sich zusammen, als habe er in eine Zitrone gebissen.
„Gib ihr einfach nur den Schlüssel!“
Da die Zeit meines samstäglichen Besuchs noch nicht vorbei war, blieb ich im Gästesessel sitzen. Der verfügte über kein Kissen, damit die Besucher schnell wieder gingen und Großvater nicht kostbare Zeit mit sich selbst raubten. Ich erkundigte mich, ob er für die Heimleute wieder Klavier gespielt habe. Er schimpfte über seine Hände, die nicht mehr machten, was er wollte.
Ich hatte seine musikalischen Erbanlagen bekommen und kannte die Zeiten, in denen er als Konzertpianist durch die Welt reiste. So weit hatte ich es nicht gebracht, aber das war auch nicht mein Ziel. Mein preußischer Großvater bemängelte das als Faulheit. Er redete auf mich ein:
„Sein Talent darf man nicht an Banalitäten verschwenden.“
Damit meinte er mein Studium der Musik- und Erziehungswissenschaften. Das leidige Thema Berufswahl kannte Großvater nicht, er wurde als Besitzer unseres Reiterhofs im Norden Berlins
geboren und durch seine Begabung als Pianist erst beim Rundfunk, dann bei den Philharmonikern engagiert. Tourneen, Proben und Konzertabende bewahrten ihn vor den Verpflichtungen auf dem Hof und in der Familie.
So brummig er auch war, ich mochte ihn. Und schon als Kind spürte ich den Schutz der Musik, wenn seine Hände über die Klaviatur fegten und unser Haus in allen Klängen der alten und neuen Meister erschallte. In meiner Kindheit, in den Siebzigerjahren, erteilte er zu Hause Unterricht, in seinem Refugium unseres geräumigen Gutshauses. Es kamen jüngere und ältere Kinder auf eine Stunde vorbei, manche begabt, andere verdonnert dazu. Manches Mal gab es Missklänge schon bei der Tonleiter, doch öfter flossen harmonische Melodien zu uns herüber. Zu Großmutter und mir. Wir saßen im Salon davor, sie stopfte Socken, ich schnitt Buchstaben von Zeitungen aus, um damit neue Wörter zu bilden. Ich mochte effiziente Begriffe wie „Blauto“ für blaues Auto. Das war mein Lieblingswort, und es verwunderte nicht, dass ich eines Tages ein Blauto fuhr. Für die Kinder und für uns stellte Großmutter stets Trinkschokolade und selbstgebackene Kekse bereit.
An uns mussten die Schüler vorbei, und sobald sie bei den Keksen zuschlugen, schätzten Großmutter und ich deren Talent ein. Manchmal stimmten wir mit des Lehrers Beurteilung überein, manchmal lagen wir daneben. Übung mache den Meister, sagte er zu jedem seiner Eleven und zu uns in Bezug auf das Urteilsvermögen.
Einige Kinder kamen zweimal die Woche, wenn Großvater Zeit dafür fand. Ein besonderes Mädchen erschien nur manchmal, und zwar mit einem quietschenden Fahrrad. Im Sommer bei offenen Fenstern hörten wir es schon von weitem.
„Ach, die wieder“, maulte Oma. „Wozu die Unterricht braucht!“
Sie trug immer einen Hut, der wie eine Glocke aussah und ihr bis tief in die Stirn reichte. Ein geflochtener hellbrauner Zopf baumelte über die Schulter. Ihr schmaler Körper steckte immer in einem Kleid. Und das Klavierspiel, das wir dann zu hören bekamen, glich dem von Großvater. Dazu sang sie mit lieblicher Stimme das Lied „Dein gedenk‘ ich, Margareta“. Dann verschwand sie wieder. Kekse und Kakao ließ sie stehen. Welches Kind machte denn so etwas? Genau genommen war sie schon ein Fräulein und richtig hübsch.
Ich sagte:
„Die ist die Beste!“
Dazu äußerte sich Großmutter nicht, sie knurrte nur:
„Mit denen wollen wir nichts zu tun haben.“
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Ende eines Winters
Roman über Liebe, Verlust und die Magie eines Neuanfangs
Heute beginnt mein neues Leben, heute erfüllt sich mein Traum! Wie kraftvoll ein Neuanfang sein kann, hat mir meine Großmutter gezeigt, die sich als betagte Frau noch in ein Abenteuer stürzte: Sie wanderte nach Afrika aus. Davon hatte sie ihr halbes Dasein geträumt. Die Grazie, ihre Anmut, als sie sich am Flughafen von uns verabschiedete, hat sich fest in mir eingeprägt. So wollte ich mich auch einmal fühlen!
Nun sollte ich in mein vollgestopftes Auto steigen und losfahren. Grazie, Anmut seid ihr mit von der Partie? In der Fensterscheibe erhasche ich mein Antlitz. Da ist die „vorlaute Gusche“ von meinem Vater, die mir schon so manchen Ärger eingebracht hat. Darüber Opas „Zinken“. Die Onkel alberten ewig über unsere „Charakternase“, wie Oma sie nannte, herum. Und nun, mit den kurzen Haaren, fällt sie noch mehr auf. Meine Augen blicken skeptisch drein. Dabei waren sie es, die ständig in Richtung Norden schielten!
„Haltung, Tilia!“, kann ich Uroma hören. „Wir Spilows sind stolze Mecklenburger.“
Ich seh die stämmige Bäuerin in ihrer Kittelschürze, wie sie aus mir ihre eigene beste Version machen wollte. Meine Mutter aber topfte mich mit elf Jahren um, zu einer Großstadtpflanze sollte ich gedeihen. Doch ich würde immer eine Landpomeranze bleiben, wie Uroma mir mit auf den Weg nach Berlin gab. Denn meine Wangen seien wie zwei Hälften von Pomeranzen, die früher auf dem Gut meines Urgroßvaters gezüchtet wurden. Das stecke in meinem Blut.
Vier Jahrzehnte später nehme ich die Fährte meines Blutes wieder auf. Ich bin jetzt bereit für Mecklenburg! Glaube ich. Falten auf der Stirn? Werden mich düstere Erinnerungen wieder fortscheuchen? Nein! Wie Oma will ich meinen Traum umsetzen, wie Uroma will ich bei Gegenwind „Haltung“ bewahren! Denn da ist so viel mehr Schönes: saftige Wiesen soweit das Auge reicht, rauschende Wälder, strahlende Schlehenhecken und leuchtende Sanddornbüsche. Fischadler, Störche und Kraniche! Die seichte Brise, feinsandige Seeufer und sanfte Regenfäden an einem Sonntagnachmittag mit einem Pott heißer Schokolade in meinen Händen.
Ah, jetzt breitet sich ein Lächeln aus, nun ein Strahlen! So hab ich mir das gewünscht, aus allen Poren sprüht wahrhaftiges Glück. Grazie, Anmut, jetzt erkenne ich euch. Stolz, ich fühle dich! So wollte ich das haben.
„Meck-Pomm, ich komm!“, lautet mein Schlachtruf. Vor mir liegen 729 Kilometer: von München bis an die Müritz. Sechs Bundesländer werde ich durchqueren, die Hauptstadt umfahren, neun Stunden habe ich für Fahrt und Pausen eingeplant. Neun Stunden bis zu meinem neuen Leben, das mich in maßgeschneidertem Kostüm bereits erwartet!
Doch dieser Neuanfang ist ein unfreiwilliger, denn er basiert auf einem Ende: dem Ende von Max und mir. Dem ultimativen Ende, das man keinem Menschen wünscht. Das einen niederreißt, zerreißt in tausend umherirrende Teilchen, die in ganzen Tränenflüssen davonziehen und nirgendwo mehr zusammenfinden können. Nein, ich wollte keinen Neuanfang. Ich wollte keine andere Welt! Unsere war nicht perfekt, aber sie hätte so bleiben können, wie sie war. Doch so geht das in der Wirklichkeit nicht, das Leben will Veränderung, will Träume befreien und neue erschaffen ...
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MohnAmour
Ein sinnlicher Roman über den Wunsch zu leben
Eine furchtlosere Frau als Flora kannte ich nicht. Mit ihr durchwehte mich Leichtigkeit.
„Adieu chérie“, warf sie mir zu, fröhlich wie ein bunter Blumenstrauß aus unserem Garten. Doch ihre kalten Lippen auf meiner Wange fühlten sich wie Eisblumen an. Ihre Umarmung war so flüchtig wie eine Schneeflocke. Es war April, auch ich bibberte.
„Bon voyage“, wünschte ich meiner besten Freundin.
An ihre Vorliebe fürs Französische hatte ich mich gewöhnt, manchmal findet man keine passenderen Worte. Und ohne zu wissen, wohin es sie zog, beneidete ich sie um ihre Reiselust. Die gehörte zu ihrer Lebensart wie zu meiner die Hausmannskost.
Nun stand sie zart und blass vor mir, die Schultern gehüllt in ihre beige Pelerine aus feinem Wollstoff, die von nur einem Knopf zusammengehalten wurde. Ihr Hals ragte nackt heraus. Ich löste mein Tuch und legte es ihr um. Eine unbestimmte Angst überfiel mich. Doch Flora wusste, was sie tat, und sie wollte es tun.
Ich küsste sie auf den Mund, wie wir das so vertraut machten, und ließ sie ziehen. Ein Flügel des Tuchs flatterte, als winke er mir. Flora schaute nicht zurück, wie sie das im Leben auch nicht handhabte. Ihren Blick hielt sie nach vorn gerichtet. Und mit jedem Meter, den sie dem Tor in die Ferne zustrebte, wirkte sie geheimnisvoller.
Eine Weile noch schaute ich ihr auf dem Münchner Flughafen nach. Adrett hielt eine helle Baskenmütze ihre langen Haare zusammen. Ihr knielanger Rock wog weich mit ihren Schritten, die sie klackend in halbhohen Pumps zur Gepäckkontrolle brachten. Der eine Arm trug ihre Handtasche mit den Reisedokumenten, der andere rollte den Koffer graziös, ein Mann legte den für sie auf das Band. Wenig später hatte das Maul des Terminals sie verschlungen.
Wenig später saß ich allein im Auto, in dem ihr Parfüm Nr. 5 noch schwebte. Es war nicht Floras erste Reise, nur das erste Mal, dass sie nicht ein Taxi zum Flughafen nahm. Ich stierte vor mich hin, lustlos startete ich den Motor und bugsierte mich auf die Landstraße durch das Erdinger Moos. Bei jedem Flugzeug, das sich über mir in die Lüfte erhob, fragte ich mich, ob Flora da wohl drin sitze, ob sie einen bequemen Platz bekommen, ob sie lange zu fliegen habe, ob sie heil wieder nach Hause komme.
Bald ließ ich die Start- und Landebahnen hinter mir, doch meine Gedanken kreisten um die geliebte Freundin. Die mein Leben auf einen neuen Kurs gebracht hat, ohne Kompass und Karte, sie marschierte einfach voraus. Mit einem Willen aus Granit, eiserner Selbstbeherrschung und kompromisslosem Lebensmut, obwohl ihre körperliche Zartheit das nicht ahnen ließ. Hinter ihrer Staffelei verschwand sie ganz, nur hin und wieder stach die Pinselspitze hervor. Bereits beim Frühlingswind hakte ich sie lieber ein, damit sie nicht hinweg geweht wurde.
Schmuck, Kleidung und ihre Kunst strahlten Noblesse aus, nie aber Prunk. Ihren erlesenen Geschmack hab ich von Anfang an bewundert und sie gefragt, ob man das erlerne in einer höheren Schule oder ob man so geboren würde.
„Es ist eine Entscheidung“, verkündete sie, Menschen ohne Stil gäbe es genug ...
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Fuchs im Schnee
DDR-Roman über die Suche nach der Wahrheit
Montag, 4. Januar 1988
Dabei hat der Tag so harmlos angefangen - mit der Freude auf ein gemütliches Frühstück! Doch statt frischer Brötchen liegt ein Brief auf meinem Küchentisch und verspottet mich - wie es scheint. Nein, wie ich hoffe! Ja, soll er mich verspotten, mich anlügen, nur zum Spaß schlimmste Fantasien in mir geweckt haben! Ich werde ihn in den Müll werfen, herzhaft über meine Panik lachen und so friedlich sein wie vorher, wie heute Morgen, als ich erwachte. Als ich nicht ahnte, dass ich wieder ein Tagebuch führen werde, mich nur diesem heimlichen Freund anvertrauen kann.
Es ist frostig in Berlin, wofür nicht der Kalte Krieg verantwortlich ist. Sondern ein atlantischer Tiefausläufer beherrscht auch bei uns in der DDR das Wetter. Er hat die innerdeutsche Grenze völlig problemlos passiert, musste weder Pass noch Visum vorweisen und keine schweißtreibenden Zollkontrollen über sich ergehen lassen. Denn für das Wetter gibt es weder Reisebestimmungen noch Ost-West-Abkommen, Sicherheitsdienst und Armee. Ein atlantischer Tiefausläufer überquert die Grenze, wie es ihm beliebt, und worum wir Menschen in Ost und West ihn beneiden.
Ich befürchte allerdings, dass dieser Tiefausläufer außer Winterluft auch etwas anderes mit rüberbrachte: einen Wirbelsturm. Und ich ahne schon jetzt, dass er denen, die er trifft, das Leben aufrührt, die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft durcheinanderwirbelt.
Ich bin mit langem Ausschlafen in einen freien Tag hineingeschwebt und freute mich auf Splitterbrötchen mit meinem so geliebten Mühlhäuser Pflaumenmus. Eine Ausgabe des „Eulenspiegels“ hat mir der nette Nachbar ausgeliehen, sie sollte mir meine Lieblingsmahlzeit erheitern. Der Blick aus dem Zimmerfenster verhieß graue Winterbrühe mit unter die Wäsche krauchender Kälte. Der Freibrief für einen faulen Tag zu Hause.
Ich legte im Küchenofen ein paar Kohlen auf die Glut, setzte Teewasser auf und schmückte meinen Esstisch vergnüglich mit dem blauweiß gestreiften Frühstücksgedeck von Hedwig Bollhagen. Während ich Pott, Teller und Teekanne drapierte, freute ich mich über die tatkräftige Frau, die in ihrer Marwitzer Keramikwerkstatt feines Alltagsgeschirr herstellt und es damit sogar zu Westruhm gebracht hat. Als Tee wählte ich Darjeeling aus, weil mich schon allein die Aussicht auf den Karamellfarbton in der Tasse beschwingt. Und allmählich breitete sich behagliche Wärme in der Küche aus.
Um die Brötchen drüben vom Bäcker zu holen, warf ich mir den Anorak über. Im Hausflur begegnete ich der Briefträgerin, ich grüßte sie freundlich, denn für den grauen Januartag konnte sie rein gar nichts. Doch sie schien mich nicht zu bemerken, studierte das Etikett eines großen braunen Umschlages. Da murmelte sie:
„Is Post aus‘m Westen.“
Sie wendete den Brief und betrachtete die Rückseite.
„Den hamse woll nich jeöffnet.“
Abrupt blieb ich stehen.
„Das geht uns doch gar nichts an“, warf ich ihr zu.
Sie streckte mir den Umschlag entgegen und hauchte mit einem Schwall Atem herüber:
„Der is für Sie, Frau Kant.“
Sie konnte sich nur verlesen haben, denn ein A4-Umschlag bedeutet Post aus Havanna von Carmen, mit einer kubanischen Zeitschrift bestückt. Und ich malte mir schon das Entschweben in die Sphären von Tabakduft, Rumba und Daiquiris aus. Da las ich den Absender. Mein Mund öffnete sich, nee, wollte er sagen, Verwechslung, kenne niemanden im Westen.
„Nehm Se schon, is doch nich verboten!“, drängelte die Postfrau.
Ich stopfte das Ding unter die Jacke, hastete die Treppen zurück in den vierten Stock, vor lauter Händezittern bekam ich fast den Schlüssel nicht ins Schloss. Drinnen atmete ich tief durch und riegelte die Wohnungstür gründlich ab. Gleich in Jacke und Stiefel prüfte ich äußerlich das Objekt. Als Absender gab es eine Ulrike Wagner in Wilhelmshaven. Was nur ein Komplott oder ein Versehen sein konnte. Und ich wollte den Umschlag ja nicht öffnen, weil es keinen Sinn ergab. Aber ich riss ihn auf.
Und da erfasste mich der Wirbelsturm. Zuerst nahm ich nur ein Lüftchen wahr. Ich breitete den Brief samt Inhalt auf dem Frühstückstisch aus. Las, erkannte nicht. Grübelte, begriff nicht. Das Feuer im Ofen bullerte. Ich schloss die Lüftungsklappe, zerrte mir Jacke und Stiefel vom Leib, goss Tee in meine Tasse, trank alles auf einmal aus, schwitzte, staunte, erschrak.
Was ist hier im Gange? Was soll ich von dem Briefungeheuer halten? Es ist zwar auseinandergepflückt, dennoch macht es mir Gänsehaut. Denn dieser Brief aus dem Westen informiert mich darüber, dass mein Vater kürzlich verstorben sein soll, und zwar in der BRD! Von Trauer bin ich weit entfernt, denn mein Vater ist tot, seit ich drei Jahre alt war. Meine Mutter hat es mir erzählt. Solide verstorben. Oma, Onkel, Tante, alle wissen es. Was soll das also mit mir zu tun haben? Das kann nur ein Scherz sein ...
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Der schönste Mann
Jahreszeiten der Liebe
Im Frühling 1974 hing ich noch an meiner einzigen Liebe: König Drosselbart. Seit ich den Märchenfilm als kleines Mädchen gesehen hatte, gehörten meine Bewunderung, meine Sehnsucht, mein Lieben nur dem EINEN. Nicht einem Paps, nicht einem Freund, nicht einem Hund. Warum schwärmte ich mit 14 nicht wie die anderen Mädchen für Frank Schöbel oder Robert Redford? Über meinem Bett prangte das Plakat von König Drosselbart. Oma, die an der Kinokasse saß, brachte es einst mit nach Hause. Auch von „Spur des Falken“ mit Gojko Mitić bekam ich ein Poster, doch an meiner Herzenswand war nur Platz für den EINEN.
Da fragte mich Folke:
„Willst du deinen König mal in der Wirklichkeit treffen?“
Wie meine Augen damals funkelten, sich heute mit Tränen füllen!
Folke berlinerte nicht wie wir anderen. Unserem „Tach“ begegnete er selbst nach zwei Jahren mit „Moin“. Seinen Heimatort, das Ostseestädtchen Warnemünde, kannte jeder von uns mit der Warnowwerft, in der riesige Schiffe gebaut wurden, was gut für die Volkswirtschaft war. Folke dagegen schwärmte für das neuerbaute Hotel „Neptun“ am Strand, mit seinen 19 Stockwerken, einer Meerwasserschwimmhalle und einer Diskothek im Himmel. Geheimnistuerisch redete er von den Westlern, die da Urlaub machten, die Stil hätten und Geld wie Heu. In unserer Clique wurde er von einigen „Snob“ genannt.
Dabei war Folke der freundlichste Junge von allen, er ärgerte sich nicht einmal über diesen Spitznamen. Seine Nase trug er nur deshalb hoch, weil sie sich an der Spitze etwas nach oben reckte. Aus ostseehimmelblauen Augen sah er einen an, als wäre man ein Katzenjunges. Den Mädchen gefiel das, sie umschwirrten ihn. Und er tratschte mit ihnen gern herum, heftete sich aber an mich. Obwohl ich für die meisten „Billa“ war, sagte er „Siby“ zu mir. Ich schnurrte darüber wie ein Kätzchen.
Niemand glaubte, dass wir miteinander gingen; wir seien zu verschieden: Folkes strandgelbes Haar wellte sich bis auf die Schultern, sein Kinn glich einem Babypopo – wie er prahlte und sich verliebt über seine Mundpartie strich. Dabei lachte er, und diese Geste wirkte erwachsener als der Bartflaum bei den anderen Jungs. Ob in der Clique oder in der Schule, die Mädchen himmelten ihn an wie einen Schlagersänger.
Ich dagegen spielte mit den Kumpels Fußball, himmelte König Drosselbart an und trug einen braunen Zopf mit Pony. Doch um Äußerlichkeiten ging es bei uns nicht. Es ging um etwas, das ich nicht kannte, Folke aber schon spürte. Es brachte uns zusammen und entzweite uns jämmerlich.
Von Anfang an verband uns die Welt des Films. Folke hatte als Kinderkomparse bei Szenen mitgewirkt, die an der Ostsee spielten. Nach dem Abitur wollte er an der Hochschule für Filmkunst in Babelsberg studieren, Drehbuchautor oder Regisseur werden. Das gefiel mir, das wollte ich auch! Ich atmete ein, was er nur von sich gab. Jetzt als 16-Jähriger hatte er bei dem Film „Wie füttert man einen Esel“ mitgemacht, der nun mit meinem König ins Kino kam.
Feurig plauderte Folke vom Dreh und den Schauspielern, die ich aus dem Fernsehen kannte. Und er hatte ihnen bei der Arbeit zugeschaut! Er war schon in der „Maske“ und erlebte mit, wie Falten weg und Fettpolster ran geschminkt wurden. Im Schneideraum sah er dabei zu, wie das Filmmaterial der einzelnen Szenen zerschnitten und zu einer fortlaufenden Geschichte neu zusammengesetzt wurde. Im Tonstudio erfuhr er, dass eine Passage durch musikalische Impulse verstärkt oder erweicht wird. Und manchmal seien die Schauspieler in richtiger Spiellaune, dass sie die Texte so veränderten, wie es für sie authentischer wäre. Von meinem König erzählte er, der sei wie ein guter Kumpel mit allen und sage offenherzig seine Meinung, wenn er etwas spielen sollte, das er für unsinnig hielt. Schauspieler würde er auch werden, träumte Folke.
„Aber am liebsten“, gestand er mir, „wäre ich Tänzer.“
Dabei schaute er mich an, als suche er in meinem Gesicht einen Mitesser. Mir fiel ein, dass Tänzer „warme Brüder“ seien, doch keine Mädchenschwärme.
„Aber Regisseur ist doch besser für einen Mann“, bemerkte ich.
Folkes Stirn kräuselte sich, seine Augen durchbohrten mich fast. Weil er nichts sagte, sondern nur auf mich starrte, plapperte ich weiter:
„Und ich schreibe für dich die Drehbücher!“
Folke hätte sich freuen sollen, aber er sah unzufrieden aus. Er salutierte mit fremder Tonart und schiefem Mund:
„Jawoll, du hast recht. Am besten Filme über Krieg oder die Nazis.“
Da schlug ich ihm schnell große sowjetische Literatur vor – Leo Tolstois Roman „Anna Karenina“. Neuerdings las ich dieses Buch, das ich in unserer Familienbibliothek entdeckt hatte. Bei den russischen Namen verlor ich immer den Überblick, aber mich interessierte allein die Liebe zwischen Anna und Wronski, sie wies mir den Weg in die Erwachsenenwelt. Das wollte ich auf der Leinwand sehen ...
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Gänseblümchen
Roman über die Kraft der Liebe
28. April 2001 – Tag 1
Selbst aus der Ferne bemerkte ich, wie Greta erstarrte. Eben noch stand sie mit stolzer Brust auf dem Podium und sonnte sich im Applaus. Nun sah ich sie mit einer fremden Frau reden. Greta fasste gebeugt nach der Stuhllehne, als suche sie Halt. Ich vermutete einen Schwächeanfall meiner betagten Schwiegermutter und wollte ihr zu Hilfe eilen. Doch wie sie diese Frau anblickte, machte mir Gänsehaut und hielt mich zurück.
Gerade hatte Greta vor einigen hundert Jugendlichen, Eltern und Besuchern in der Aula einer Stockholmer Schule gesprochen und nordische Gemüter bewegt. Es handelte sich um eine Filmvorführung zur Operation „De vita bussarna“, jener heroischen Rettungsaktion durch die Weißen Busse am Ende des 2. Weltkrieges.
Dieses Thema war unserer Familie Bedürfnis, eine Veranstaltung auf die Beine zu stellen. Greta als damalige Krankenschwester im Malmöer Hospital sollte davon erzählen, wie tausende gerettete Häftlinge aus deutschen Konzentrationslagern in Schweden medizinisch versorgt wurden. Doch sie schlug unverhofft einen neuen Kurs ein. Und erstmals erfuhren wir vom „Gänseblümchen“, das uns als Betroffene überrollte und erschütterte.
Dabei hatten wir am Vortag den Ablauf besprochen; mit keinem Wort erwähnte Greta ihr Vorhaben. Als Tyrannin konnte man diese 83-jährige Schwedin, die seit vier Jahrzehnten allein lebte, vielleicht nicht bezeichnen, aber definitiv vertrug sie keine andere Meinung. Also hatte ich einen Vorschlag auf Zehenspitzen unterbreitet, der die Reihenfolge der Veranstaltung betraf.
Sofort verwies sie mich auf meinen Platz, es gehe nicht um meine Ideen, sondern sie und Eric hätten genaue Vorstellungen. Was ich wie immer hinnahm, denn so kannte ich Greta, so kannte man mich. Wenngleich meinem Mann die Sichtweise des Anderen wichtig war, und er als ehemaliges Mitglied des schwedischen Diplomatenkorps ging respektvoll damit um.
„Mutter, wir sollten Sibyllas Vorschlag in Betracht ziehen“, warf er sich schützend vor mich.
Die Diva winkte ab.
„Wir machen das wie besprochen oder gar nicht!“
Sie raffte ihre Handtasche, als ob sie aufbrechen wolle.
Als Schwiegertochter hatte ich keinen leichten Stand bei Greta. Nach 19 Ehejahren schien sie mit der Wahl ihres Sohnes immer noch unzufrieden zu sein. Da er sich mit 41 ausgerechnet eine Ostberliner Kindergärtnerin zur Frau genommen hatte. Dass ich 20 Jahre jünger war als er, schien sie zu berechtigen, mich wie eine Enkeltochter umerziehen zu wollen.
Greta verfolgte mit dem Prachtexemplar ihrer Erbanlagen eigene Pläne. Dabei sehnte Eric sich nach einem festen Zuhause mit Kindern, zumal er bereits zwei uneheliche Söhne hatte. Und als Vorverhandler im diplomatischen Dienst ist er die meisten seiner Junggesellenjahre in der Welt herumgereist. Er bereitete für wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit wie auch für Völkerfreundschaft den Weg. Nur seine persönlichen Wünsche blieben dabei auf der Strecke.
Die Stockholmer Boulevardpresse zählte Eric zu den zehn begehrtesten Junggesellen: attraktiv, gebildet, reich. Jetzt degradierte man ihn zum „Ticket in den Westen“. Ich goss naiv Öl ins Feuer, als ich von einem Presserowdy bedrängt wurde und erklärte, dass ich aus Liebe zu meinem Mann nach Schweden gezogen sei. Daraufhin wurde er zur „Vaterfigur für ein ahnungsloses ‚Mädchen aus Ost-Berlin‘“ erkoren. Ich weinte über diese Behauptung, während Eric sie munter über die Schulter winkte.
„Liebes, da lachen wir drüber!“
Als wir uns kennenlernten und ziemlich schnell verliebten, ich mit kastanienbraunem Zopf, er mit hellblonder Scheitelfrisur, wurde ihm sein Wunsch nach Familienleben nur allzu bewusst. Meiner war es seit jeher, und nun öffnete sich mir das Tor zu einem rosafarbenen Himmel. Allerdings ahnte ich nicht, wie vermögend Eric war, und er nicht, dass ich maßvoll leben wollte. Obwohl wir doch in Champagner hätten baden können - in seiner großen Eigentumswohnung im prächtigen Viertel am Strandvägen von Stockholm!
Bereitwillig nahm er diese Herausforderung an, erlaubte mir, ihn zu einem „exzellenten Ehemann“ zu formen. Während Greta an mir kaum ein gutes Haar ließ, ich sei ein Fehler. Als junges Ding steckte ich das weg, da sie weit entfernt in Malmö wohnte und familiäre Nähe nicht suchte. Ich würde sie schon von mir überzeugen, da war ich mir sicher. Doch mein Selbst verschwand im Schatten des für mich schönsten und liebevollsten Mannes meines Lebens.
Ich bemerkte meine Auflösung nicht, hielt unsere Ehe und Familie für makellos. Glücklich und zufrieden glaubte ich, jeder würde das genauso sehen. Aber Erics ältester Sohn Folke machte vor mir keinen Hehl daraus, dass ich kaum mehr vorhanden sei. Greta wies mich stets in die Schranken, was Eric nicht gefiel, ihr aber meistens durchgehen ließ. Von mir erwartete er, erwachsen drüber zu stehen, wir sollten keine Fronten aufbauen. Eine Einstellung, die ich an meinem Mann stets bewunderte, die er selbst praktizierte und ich für mich übernahm. Auch bei Greta.
Mit dieser Veranstaltung hatte sie es mit ihrem Sohn endlich einmal wieder positiv in die Zeitungen geschafft! Ich gönnte es ihr. Nur wer war ich, dass ich an ihrem Plan rütteln und Vorschläge machen dürfe? Da mischte sich Folke ein.
„Greta, sehen wir es doch so“, sagte er mit gleichmütiger Stimmlage. „Mein Film fesselt die Zuschauer eher auf visueller Ebene. Sie betrachten ihn aus heutiger Sicht mit dem Wissen, dass sich die Welt weitergedreht hat. Aber wie Siby sagt, sie sollen die Veranstaltung im Herzen berührt verlassen. So möchte ich das machen. Also erfüll bitte deinem Enkel diesen Wunsch und tritt nach dem Film auf. Deine Arbeit als Krankenschwester, die sich um die Gebrechen der Ankömmlinge kümmert und ihnen bei ihren Leiden zur Seite steht, wird jeden mit Gefühl ergreifen. Im Herzen berührt von wahrhafter Humanität, wie Siby sagt.“
Während mir ein Kloß im Hals saß, raunte Eric:
„Gut gesagt, Großer. So gehen wir das an.“
Gretas Lippen kräuselten sich, strafften sich.
„Wenn ihr das so seht, dann trete ich eben am Ende auf! Hoffen wir mal, dass dann noch jemand im Saal verblieben ist!“
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Oskar von Sorgenlos
Tierisch Menschliche Weisheiten - 12 lustige Gedichte und Zeichnungen
Der fatale Hühnersuppentopf
Fröhlich gehen wir spazieren, Oskar will zum Hof mich führen. Vor dem Zaun, ich seh es ja, pickt munter eine Hühnerschar.
Schreck und riesengroße Schmach, stellt er einem Hahn gleich nach! Welch Gegacker und Geschrei! Siegessicher kommt er herbei.
Reuelos blickt er mich an, in seinem Maul der schlaffe Hahn. Mein Aufschrei fährt ihm in die Glieder, artig legt die Beute er nieder.
Die Bäuerin ruft schon zu mir: „Es ist ja die Natur im Tier!“ Den Hahn hat sie für mich geputzt, so hat für Suppe er noch genutzt.
Die Moral von dem Gedicht: Des einen Natur ist des anderen Glück nicht.
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